Ich habe ja ursprünglich mal mein Jahr der Freiheit (2020) ausgerufen und wollte wohl auch das Thema Freiheit nicht nur praktisch sondern auch schreibend weiter erforschen. Im Herbst kam mir dann irgendwann der Lockdown, der jetzt schon fast ein halbes Jahr andauert und dessen Ende nicht in Sicht ist, dazwischen.
Ganz ehrlich: Lockdown und Winter, darüber habe ich die Freiheit wohl sogar fast vergessen oder besser gesagt eher mit meinem Bedürfnis nach Freiheit gehadert.
Kontrollverlust
Stattdessen habe ich mich – notgedrungen – eher mit meinen Ängsten beschäftigt.
Was macht mir Angst? Der Verlust von Kontrolle, Ohnmachtsgefühle. Und die werden ja durch die derzeitige Situation nicht zu knapp auf den unterschiedlichsten Ebenen hervorgerufen – insbesondere, wenn man a) sowohl großen Respekt im Hinblick auf C19 hat als auch b) die derzeitigen Regeln unverhältnismäßig findet als auch c) ein gesellschaftliches und politisches Chaos wahrnimmt als auch d) ein sehr regelkonformer Mensch ist, der versucht, sich auch an den letzten Schwachsinn zu halten.
Also gut, ich habe mich mit meinen tiefen Ohnmachts- und Panikgefühlen angesichts des von mir wahrgenommenen Kontrollverlusts auseinandergesetzt.
Verletzungen und Traumata
Dabei lassen sich solche Ohnmachtsgefühle relativ gut traumatischen oder jedenfalls verletzenden Ereignissen oder Situationen zuordnen. Solche Ereignisse oder Situationen können auch transgenerational sein, das heißt, eine Generation – Eltern, Großeltern, Urgroßeltern – hat ein Trauma erfahren, das in der ein oder anderen Weise an nachfolgende Generationen weitergegeben wurde und sich dort jeweils situationsspezifisch manifestiert hat (Filmbeispiel, das humoristisch damit spielt: Zurück in die Zukunft, Trilogie, übrigens immer wieder sehenswert).
Was ist das Besondere an einer traumatischen Situation oder einem traumatischen Ereignis?
Verletzung und Trauma sind im Grund die stärkste Negation der Selbstwirksamkeit. Eine Situation wird als ausweglos erlebt, ein Mensch wird Opfer, es gibt keinen gangbaren Ausweg, und meine körperliche, psychische oder persönlichkeitsidentifizierende Integrität wird unter Ausnutzung meiner Wehrlosigkeit verletzt (Bsp.: ich werde festgehalten und verprügelt). Insofern kann beispielsweise für ein „besonderes“ Kind der Zwang des Schulbesuchs mit der dort erlebten Dauerbotschaft „du bist falsch“ traumatisierend sein. Transgenerational können z.B. die Kriegsgenerationen Traumata bezüglich des Verlustes Angehöriger durch den Krieg weitergegeben haben, die sich dann insbesondere in Verlustängsten, Panikattacken und Kontrollzwängen bei den nachfolgenden Generationen zeigen.
Buße tun
Psychologisch schwierig bei der Aufarbeitung von Traumata ist ja, dass insbesondere Kinder sich selbst die Schuld am traumatischen Erlebnis geben. Daraus resultiert häufig eine grundlegende Abwertung der eigenen Person – je grundlegender, desto mehr die traumatisierende Verletzung auch Grundlagen des Lebens oder der eigenen Identität berührt.
Eine häufige Kompensationsstrategie ist Rückzug in sich selbst und passives Verhalten – frei nach dem Motto „wer nichts macht, macht auch nichts falsch“.
Allerdings haben gerade gefühls- und willensstarke Menschen die Kapazität, diesen instinktiven Rückzug zu überlisten und sich in diejenigen Herausforderungen zu zwingen, die ihnen die meiste Angst machen – so eine Art unbewusste Konfrontationstherapie. Dieses Verhalten wird dann von außen häufig als widerständig, trotzig, übermäßig, gegebenenfalls ideologisierend, extrem, ziellos oder übers Ziel hinausschießend wahrgenommen.
Eine weitere Kompensationsstrategie ist der überobligatorische Einsatz für Anliegen, die im Zusammenhang mit den traumatisierenden Verletzungen stehen. Sozusagen die sich selbst zugeschriebene Schuld des Täters abzubüßen. Beispielsweise tragen hochbegabte Menschen häufig den Glaubenssatz in sich, sie dürften es sich nicht leicht machen – sie müssten mindestens genauso viel, eher mehr, leisten, um ein Ziel zu erreichen wie Menschen, denen die Leistungserbringung viel schwerer fällt. Die „Hilfsmittel“ der überobligatorischen Kompensation sind Prokastrination, Perfektionismus, Selbstzweifel und Grübelei.
Bei ressourcevollen, begabten Menschen, die außerdem sehr gefühlssensibel sind, kommt hinzu, dass sie teils den unbewussten Plan verfolgen, einen Ort zu schaffen, an dem die Täter:innen, die seinen Vorfahren und ihm begegnet sind, nicht zu Täter:innen werden würden. Sie versuchen also unter Einsatz heldenhafter Kräfte, ein kleines Paradies auf Erden zu kreieren. Geschieht dies unreflektiert, aus Ohnmachts-, Angst- und Schuldgefühlen heraus, begleitet von Selbstzweifeln, Abwertung und Grübelei, kann es zu einem Gefängnis werden. Erkannt, angenommen, geheilt und befreit kann daraus Berufung und Sinnstiftung entstehen.
Coping-Strategien
Wir sind alle irgendwo auf unserem Weg, und manche Strategien, uns zu orientieren, sind heilsamer als andere.
Ich persönlich finde mich sehr stark wieder im Antagonismus zwischen „Buße tun“ und „mir Freiräume schaffen“.
Sich Freiräume zu schaffen, ist zwar grundsätzlich eine gute und gesunde Strategie, um sich aus verletzenden Situationen zu lösen. Kleine Schritte zu mehr Freiheit, indem man zum Beispiel einem fordernden Arbeitgeber Grenzen setzt, dabei positive Selbstwirksamkeitserfahrungen macht, an Selbstvertrauen gewinnt und dadurch auch mehr respektiert wird, sind hilfreich.
Wenn man es allerdings, so wie ich, gerne übertreibt, oder besser: auf die Spitze treibt, und gleichzeitig versucht, überobligatorischen Einsatz zu bringen und sich immer größere Freiräume zu erarbeiten, endet das gerne in Verbissenheit, Erschöpfung, Burn-Out.
Dabei vergessen wir zu schnell und zu leicht und immer wieder: Ich kann gar nichts kontrollieren – außer mir selbst. Da treffen wir wieder auf das existantialistische Konzept der radikalen Selbstverantwortung. Das Bekenntnis zur Selbstverantwortung fällt sensiblen Menschen, die alte Wunden mit sich herum tragen, natürlich schwer, denn, wir erinnern uns, hiermit gehen Schuldgefühle, Verantwortungsübernahme zugunsten der Täter:innen, Selbstzweifel und Selbstabwertung einher. Ich habe also möglicherweise den Glauben an mich selbst verloren – dass ich mich ändern, dass ich mein Leben in die Hand nehmen kann. Dass ich mit weniger Geld auskommen könnte, dass ich abnehmen, Sport machen und gesünder leben könnte, dass ich als kompetent und durchsetzungsstark wahrgenommen werden könnte, dass ich eine gute Mutter sein könnte, … die Liste ist so lang wie wir alle facettenreich sind.
Auf der einen Seite will ich also den Glauben an mich und meine Selbstwirksamkeit wiedergewinnen und für mich die Verantwortung übernehmen.
Auf der anderen Seite will ich akzeptieren, dass ich über sonst nichts die Kontrolle habe. Dass ich also radikal ohnmächtig bin.
Aber die Ohnmacht ist ja gerade die Angst auslösende Situation. Die mich in die traumatische Schockstarre, in die Haltung der Selbstverletzung, der Schuld, der Bestrafung, der Abwertung, der Verwzeiflung, der Passivität, des Erduldens, des Auf-mich-Nehmens bringt.
Und jetzt sitzen wir derzeit hier also neben allen persönlichen Herausforderungen, die C19 ja nicht zum Verschwinden gebracht hat, in der kollektiven Ohnmacht.
Vielleicht bin ich auch in der Phase der Heilung, in der ich gerne jemand anderem die Schuld zurückgeben möchte. Der Politik, der Familie, der Elite, den Ausländern, der Wirtschaft, den Beamten, auch diese Liste ist lang.
Und wenn der andere – wie regelmäßig – die Schuld nicht annehmen wird, ich vielleicht aufgrund Entfernung oder Tod gar nicht mit ihm in Kontakt treten kann – verstärkt dies mein Ohnmachtsgefühl.
Ohnmacht annehmen
Es wird mir also nichts anderes übrig bleiben, als die Ohnmacht anzunehmen.
Na klar, zu diesem Ergebnis hätten wir auch früher kommen können, ein Sinnspruch eines Philosophen, spirituellen Führers oder Künstlers hätte gereicht, aber – so logisch hergeleitet kann ich als verkopfter Mensch die Erkenntnis besser annehmen.
Mir hilft, die Ohnmacht als Korrelat meiner Selbstverantwortung zu spüren. Denn es handelt sich nur um ein Wort für den Zustand der Nicht-Verantwortung. Nicht-Verantwortung kann aber auch erleichternd sein. Ich darf Verantwortung abgeben, da wo meine genuine Selbstverantwortung endet, ich darf mich leicht und frei und unbeschwert fühlen.
Dabei kann helfen, die eigenen körperlichen Grenzen zu erkunden, alleine in der Natur unterwegs zu sein, die Elemente auf seiner Haut zu spüren und sie wieder loszulassen – ins Wasser zu springen, die Tröpfchen auf der Haut vom Wind trocknen lassen, in den Sand fallen, und wieder ins Wasser und den Sand abwaschen.
Jemand anderen zu berühren und nur zu schauen, nicht zu urteilen. Die bloße sinnliche Erfahrung anzunehmen ohne eine Wertung zu treffen.
Und plötzlich erscheint die Freiheit auch wieder näher: Denn ist Freiheit nicht nur ein anderes Wort für Nicht-Verantwortung?
Ich bin nicht verantwortlich dafür, wie andere mich erleben. Ich bin nicht verantwortlich für ihr Urteil über mich. Ich darf sein, wie ich bin. Und dass ich bin, wie ich bin, ist allein meine Verantwortung.
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