Ich habe mich innerlich immer etwas über den Satz mokiert: „Der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht andere Menschen.“
Aber auch wenn ich vielleicht erlernt habe, dass ich in meinen tradierten Bahnen häufig besser alleine als mit anderen Menschen zurechtkomme, weiß ich heute, dass in diesem Satz viel tiefe Wahrheit steckt.
Er beschreibt unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Ein Bedürfnis, das so stark und elementar ist, dass Babys trotz ausreichender Nahrungsaufnahme und Körperpflege sterben können, wenn ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit nicht in Grundzügen (Ansprache, Berührung) erfüllt wird.
Angst, Scham, Einsamkeit
Die Grunderfahrung, die viele, viele facettenreiche Menschen in Kindheit, Jugend und auch als Erwachsene immer wieder machen, ist, gespiegelt zu bekommen, anders zu sein. Und mit der Spiegelung des Andersseins werden Abwertungen verbunden, wie „braucht immer eine Extrawurst“, „fällt immer auf“, „eckt an“, „kooperiert nicht genug“, „will ihr eigenes Ding durchziehen“. Die Folge ist eine Abwärtsspirale von Einsamkeit, Rückzug, (Auto-) Aggression, Abwehrhaltung und, vor allem, existentiellen Ängsten.
Diese existentiellen Ängste, nicht dazuzugehören, resultieren in einem hohen, häufig perfektionistischen (Leistungs-) Druck, sich anzupassen, erfolgreich zu sein, Normen und Standards zu erfüllen, zu „genügen“, gepaart mit dem Gefühl, nie ausreichend sein zu können.
Gleichzeitig bringen Facetten wie Hochbegabung, Hochsensibilität, Offenheit des Geistes, es mit sich, in einer Grundstimmung zu leben, die der bekannte US-amerikanische, auf Hochbegabung spezialisierte Psychologe James T. Webb noch in seinem letzten, von seinem fünfzigjährigen Erfahrungsschatz getragenen Werk „Die Suche nach Sinn“ als „existentielle Depression“ beschreibt. Diese existentielle Depression darüber, dass die Welt ein unperfekter, häufig von Unlogik und Ungerechtigkeit beherrschter Ort ist, verursacht eine hohe Gefühlsintensität verbunden mit tiefen Gefühlen der Trauer, der Wut und der Ohnmacht. Diese Gefühle werden jedoch vom Umfeld häufig als „lebensuntüchtig“, „übersensibel“, „weinerlich“, abgewertet und sogar pathologisiert. Mit der Folge, dass diese Gefühle nicht gezeigt und sogar unterdrückt werden und Schuldgefühle erwecken.
Die Abwertung des Andersseins und der Gefühlsintensität führen also zu den Grundgefühlen Angst, Scham, Leistungs- und Konformitätsdruck sowie Einsamkeit.
Besonderheiten gutheißen
Was also können wir alle für uns, unsere Mitmenschen, unsere Kinder tun, deren Facettenreichtum verschüttet wird von diesen Gefühlen?
Eine Reaktion ist die Erkenntnis von Traumatisierung verbunden mit deren Aufarbeitung. Aber was nüchtern klingt, ist auch unzureichend: Vielleicht verschiebt sich meine Wahrnehmung dann dahingehend, dass ich mich als Opfer und mein Umfeld als Täter begreife. Vielleicht lerne ich, mich abzugrenzen und vor weiteren Verletzungen zu schützen. Vielleicht gewinne ich sogar ein gewisses Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein.
Aber bei alldem kann ich innerlich immer noch leer sein. Die Leere kann ich füllen mit der Flucht in Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Und dabei ist dann mehr oder weniger zufällig, in welche Gruppe ich mich flüchte. Nein, nicht zufällig, sondern wieder determiniert von meinem Umfeld, nicht von mir!
Ich flüchte mich also vielleicht in die Karriere, die Selbsthilfegruppe, die Subkultur, die symbiotische Partnerschaft, die Elternrolle.
Das führt nicht selten dazu, dass ich meinen Zufluchtsort überhöhe, aufs Podest stelle, idealisiere und seine Identifizierungsmerkmale vor mir hertrage wie ein Priester die Monstranz an Christi Himmelfahrt.
All das führt mich weg vom Dialog, weg davon, in Kontakt mit Allem zu sein, vor allem aber auch weg von mir selbst, von meinem facettenreichen Wesenskern. Von dem, was all diese Schmerzen verursacht hat.
Was können wir also tun?
Wir können auf diese Schmerzen hören, immer und immer wieder, und hinschauen, hinhören, hinspüren, immer und immer wieder. Immer und immer wieder heilen.
Wir können diesen Schmerzen vorbeugen, indem wir Besonderheiten gutheißen – bei uns, bei allen Menschen um uns herum, bei unseren Kindern.
Gutheißen, was bedeutet das?
Gutheißen bedeutet liebevoll hinzusschauen, nicht mehr, nicht weniger. Es bedeutet nicht: Diesen Besonderheiten mehr Raum zu geben, als sie füllen können. Das würde bedeuen, sich von ihnen abhängig zu machen. Aber wir sind nicht unsere Gedanken, wir sind nicht unsere Gefühle: Auf der Ebene des Seins sind wir alle Eins.
Fürs Einssein mit Allem, für spirituelle, mystische, transzendente Momente haben facettenreiche, liebevolle Menschen in der Regel ein wunderbares Gespür, viele gar einen „siebten Sinn“. Diesen (wieder) zu erwecken, kann wunderschön sein.
Was bedeutet das, die Besonderheiten gutzuheißen? Für uns Betroffene bedeutet es Zugehörigkeit. Ich heiße meine Besonderheiten gut, bedeutet auch: Ich hadere nicht (mehr) mit ihnen. Ich nehme mich als Teil der Gesellschaft an. Ich selbst erfülle mir mein Bedürfnis nach Zugehörigkeit.
Es heißt nicht: Ich will die anderen ändern. (Wie wir ja alle wissen: Das funktioniert auch nicht.) Ich will die anderen nicht (mehr) ändern, weil ich angenommen habe, dass ich besonders bin und dass ich gut so (besonders) bin, wie ich bin.
Alle Versuche, die anderen ändern zu wollen, deuten darauf hin, dass ich selbst (noch) damit unzufrieden bin, anders zu sein. Es wird aber nie möglich sein, jegliche Art von Andersartigkeit zu inkludieren oder zu integrieren. Kaum ist die eine Andersartigkeit inkludiert, taucht die nächste auf: Es wird uns immer geben, zu welcher Zeit auch immer. Und es wäre fatal, zu glauben, dass Besonderheit immer zu zu Aktivimus führen muss. Auch das wäre eine das besondere Individuum diskriminierende Last.
Deshalb muss das Ziel jeglicher Unterstützung besonderer Menschen, sei es durch Eltern für Kinder, durch Berater für Ratsuchende, durch Therapeuten für Patienten, durch Aktivisten für Diskriminierte, immer und ausschließlich das Gutheißen der individuellen Besonderheiten im Fokus haben. Ob und welche Anpassungsleistungen dann erfolgen, ob dies in Aktivismus, Abgrenzung oder Aussteigen mündet: völlig „Latte“.
Es funktioniert eigentlich wie der Schutz von Minderheiten, etwas, was uns heutzutage politisch und juristisch fast schon in Vergessenheit geraten ist.
Zugehörigkeit stiften
Ene Form der Heilung ist die Stiftung von Zugehörigkeit. Wo immer wir uns begegnen, können wir einander bedeuten: Du bist besonders. Du bist gut. Du gehörst dazu.
Mich hat immer die wunderbare Geschichte von Swimmy, dem kleinen schwarzen Fisch, von Leo Lionni, berührt. Swimmy lebt als einziger schwarzer Fisch in einem großen Schwarm orangefarbener Fische. Eines schrecklichen Tages werden alle anderen Fische aus seinem Schwarm von einem großen Fisch gefressen, da Swimmy als einziger besonders schnell schwimmen kann. Daraufhin zieht Swimmy alleine los, die Weltmeere zu erkunden, und sieht viele schöne neue Dinge. Eines Tages trifft er in Küstennähe auf einen anderen Schwarm orangefarbener kleiner Fische. Dieser traut sich nicht fort, da er Angst vor den großen Fischen im offenen Meer hat. Doch Swimmy hat einen genialen Vorschlag: Um nicht zur Beute zu werden, bilden die kleinen Fische einen großen Fisch, und der schwarze Swimmy macht das Auge. So können sie unbehelligt die weiten Meere erkunden.
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