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Mit etwa 16, 17 Jahren habe ich das Buch „Narziss und Goldmund“ gelesen. Ein Klassiker von Hermann Hesse über das Leben zweier Jungen, die im Kloster zur Schule gehen und die eine innige Beziehung verbindet. Doch der eine, Narziss, ist bestimmt dazu, als Musterschüler schon in jungen Jahren die Führung des Klosters als Abt zu übernehmen, der andere, Goldmund, bricht aus dem strengen Klosterleben aus, zieht durch die Lande, verführt jeden Abend eine andere Frau und wird ein bedeutender Künstler. Vor seinem Tod kehrt er ins Kloster zurück und Narziss und Goldmund können noch einige Zeit still ihr Miteinander genießen.

Doch wovon handelt die Geschichte auf den tieferen Ebenen? Für mich geht es dabei, wie im gesamten Werk sowohl Hermann Hesses als auch Thomas Manns, um den Gegensatz zwischen „Bürger“ und „Künstler“. Diesen Gegensatz habe auch ich mein ganzes Leben lang als Konflikt in mir gespürt – insbesondere bei Fragen wie: Studiere ich Kunst oder Jura? Immer wieder habe ich den künstlerischen Anteil bewusst verdrängt, wollte vernünftig, strebsam, erfolgreich sein. Zeitweise habe ich bewusst mein primäres bürgerliches Leben gelebt, und mir daneben mein zweites, künstlerisches gegönnt. Das klingt jetzt allerdings aufregender, als es war. Bei mir bedeutete das einfach, neben dem Jurastudium mit viel Fleiß und guten Noten in den Semesterferien für soziale Unternehmungen in der Welt herumzureisen.

Und in den letzten Jahren, also weitere 16, 17 Jahre später, ist mir bewusst geworden und muss, darf, kann ich zugeben: Der Goldmund in mir überwiegt. Denn natürlich sind wir reale Menschen nicht ganz so extrem wie die literarischen Prototypen. Jeder von uns ist ein bisschen Narziss, ein bisschen Goldmund. Aber bei einigen, und das ist doch eher die Minderheit, überwiegt der Goldmund-Anteil so eindeutig, dass sie mit einem konventionellen Lebensentwurf nicht glücklich werden.

Was aber ist dieser Goldmund-Anteil genau? Was macht uns aus? Ich glaube, es sind drei Aspekte, die uns kennzeichnen. Bei einigen sind vielleicht alle drei ein bisschen ausgeprägt, bei anderen einer sehr stark und ein zweiter etwas weniger, der dritte vielleicht nur marginal. Ich denke dabei an eine deutlich überdurchschnittliche Intelligenz, eine deutlich überdurchschnittliche Sensibilität und Sensitivität in Verbindung mit einem hohen Einfühlungsvermögen und eine ausgeprägte Nicht-Heteronormativität. Was verstehe ich dabei unter Nicht-Heteronormativität? Alle Menschen, die sich nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuordnen oder nicht vollständig mit ihrem angeborenen Geschlecht identifizieren, die sich bewusst als androgyn empfinden, die die gegebenen sozialen Geschlechtsidentitäten von Männern und Frauen für sich ablehnen, und/oder die nicht ausschließlich Menschen des anderen Geschlechts lieben.

 Was macht das Zusammenspiel dieser drei Persönlichkeitskomponenten so besonders? Es zeigt sich zunächst vielleicht vor allem darin, dass mensch sich selten zu irgendeiner Gruppe oder auch nur zu irgendeiner anderen Person zugehörig fühlt, ja, das vielleicht ein Leben lang die Worte Zugehörigkeit und Zuhause keine Bedeutung gewinnen, sich nicht greifen lassen, emotional mit Trauer und Einsamkeit besetzt sind. Es zeigt sich weiter darin, dass mensch keine andere Wahl hat, als sich mit vielen Fragen, deren Antworten von seinem Umfeld als selbstverständlich genommen werden, kritisch auseinanderzusetzen. Es zeigt sich darin, dass schon in der Kindheit und dann das ganze Leben hindurch insbesondere in Entscheidungssituationen – welchen Beruf wähle ich, welche Lebensform, mit wem gehe ich Beziehungen ein, usw. – ein enormer Rechtfertigungsdruck entsteht, der zu starken Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen führen kann.

Es zeigt sich aber auch in den wunderbaren Momenten voller Kreativität und Herzlichkeit, voller Solidarität und Leidenschaft. Es zeigt sich darin, dass wir Menschen lieben, dass wir unkonventionell leben und ein Herz für Menschen haben, die sich schwer damit tun, sich anzupassen.

Das alles heißt nicht, dass jeder hochsensible, hochintelligente, nicht-heteronormativ lebende Mensche einen künstlerischen Beruf ergreift oder nur mit einem solchen glücklich ist. Es werden aber die freien Berufe, Selbständigkeit, Menschen oder Tier bezogene und soziale Tätigkeiten überwiegen. Und es heißt vor allem, dass jeder, dessen innerer Goldmund überwiegt, sich bewusst machen darf, dass ein von strengen Konventionen geprägtes Klosterleben nichts für ihn ist – und dass er die Freiheit der Unkonventionalität wählen darf, um seiner inneren Bestimmung zu entsprechen. Und der Welt Liebe zu schenken.

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