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„Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich….“ – wer kennt diese Zeilen nicht. Heute schwirrt es durch meinen Kopf: „kein Schwein geht dran, keine Sau interessiert sich für mich.“ Mal schauen, wie lange ich diesen Ohrwurm haben werde.

 

Pfingstmontag. Die Sonne scheint, 27°C, warme Luft.

 

Pfingsten, was war das nochmal? Langes Wochenende, wegfahren lohnt sich, hm.. und sonst? Direkt mal recherchieren. Hoher kirchlicher Feiertag, Gründung der Kirche, usw. – aha.

 

Pfingstmontag. Folgende Liedzeile kommt mir in den Sinn: „Köln ist beschaulich und rasant, ist klerikal und tolerant, mal hat´s Session und manchmal spinnt´s. Ein jeder Jeck darf anders sein, mein Köln ist groß, mein Köln ist klein, ist Metropole und Provinz.“

 

Pfingstmontag. Wir arbeiten in unserem SinnReich. 300m vom Neumarkt entfernt. Der Neumarkt, laut diversen Statistiken einer der gefährlichsten Plätze in Köln, in NRW – vielleicht sogar in Deutschland. „Junkies wohin man schaut – die Schattenseite der Rheinmetropole“ könnte die Überschrift einer Boulevard Zeitung lauten. Im Fenster haben wir, nicht nur aber auch wegen Corona, ein Schild, dass Passanten einlädt mit uns in Kontakt zu treten und Kaffee zu trinken.

Ein junger Mann, hübsch und den sommerlichen Temperaturen entsprechend gekleidet, steht vor der Tür und ringt mit sich, ob er klopfen soll. Im Gesicht eine Maske wegen Corona, in den Augen tränen – warum, weiß ich noch nicht. „Entschuldigen Sie, meinen Sie das ernst mit dem Reden?“ – „Ja klar, kommen Sie gerne rein. Kaffee, Wasser?“ „Stilles Wasser wäre prima, danke“.  Schnell das mobile Büro verräumt und eine Gesprächsatmosphäre in den Raum gezaubert. Soweit so gut.  Vier Stunden später sitze ich wieder an meinem Laptop und habe ein sehr dringendes Bedürfnis etwas zu schreiben. Das hier, diese Zeilen. Mich beschäftigt einiges, mal schauen was es wird.

Pfingstmontag.

Der hübsche Mann, nennen wir ihn Dominik, 23 Jahre jung. Hat „privat“ gefeiert, ab Samstag – im schräg gegenüberliegendem 4*-Wellness-Hotel. Wechselklamotten brauche er nicht. Hat kein Handy mehr und bittet, dass wir seinen Eltern Bescheid geben, dass er noch lebt. Erstes Lebenszeichen seit Samstag, in dem Zustand möchte er nicht nach Hause. Geld, Ausweis und Autoschlüssel sind noch da. Sein Kreislauf stabilisiert sich (Cola und Salzbrezeln helfen immer), er erzählt und erzählt…  Autofahren könne er erst übermorgen wieder, und er möchte unbedingt in sein HomeOffice morgen. Er freut sich, dass sein Handy weg ist. So kann er auch online keine neuen Dates ausmachen.

Wir beide schauen uns immer wieder an. Wie können wir ihm gerade sonst helfen? Wir hören zu, suchen nach seinen genannten Kontakten (wer von uns kennt noch die Telefonnummern auswendig) und überlegen welche Hilfs- und Beratungsstellen mit ihrer Expertise und Erfahrung uns allen weiterhelfen können. Uns dabei, ihn heute gut „betreut“ zu wissen und ihm, weiterhin einen geschützten Raum, wo er wertschätzend erstmal er selber sein darf, aber auch ein Bett und eine Dusche zu bieten. Wir durchforsten das Internet, parallel mobilisieren unser Netzwerk.

Städtische, kirchliche, gemeinnützige Institutionen stellen ihre Schwerpunkte im Netz gut dar: „Notfall-Telefon“, „Ambulanz“, „Soforthilfe“. Wir rufen an. Überall erreichen wir einen Anrufbeantworter bzw. Bandansagen. Von „Montags bis Freitags erreichen Sie uns von 9-12h“ über „..ab 16h rufen Sie bitte die Ambulanz an..“ hinzu „…hinterlassen Sie eine Nachricht, wir rufen Sie umgehend zurück“ habe ich so einiges gehört. Einen Menschen habe ich erreicht, angestellt in der Verwaltung, der zufällig Telefondienst hatte – nein, inhaltlich könne er mir leider nicht weiterhelfen, ich solle mal im Internet schauen. Blieben auch noch die Nummern 112 und 110 – doch was hätte das für Konsequenzen für Dominik?

Ihn einfach ins System zurückgeben, entweder zur Entschlackung auf die örtliche Wache oder zu den Kollegen der Geschlossenen – hm, schwierig. Er berichtet von sich aus schon von dem Spagat „Eltern/Ausbildung“ und „Therapie/Sozialarbeiter“. Er suche nach einem Plausch beim Glas Wasser, nach einer kurzen Auszeit. Geld für Hotel oder Taxi habe er, er wolle einfach erstmal nur reden.

Pfingstmontag. Alle haben frei, alle sind unterwegs. Das Netzwerk ist aktiv, Menschen melden sich aus der Natur und geben uns ihre Erfahrungen aus ähnlichen Situationen weiter.

Pfingstmontag. Bisher dachte ich immer, dass das „System“, die vielen fleißigen Helfer im Hintergrund (Feuerwehr, Polizei, Pflege, Gesundheit…), auch an Feiertagen da sind bzw. wie für unseren Fall zumindest telefonisch mit einer „Notfall-Hotline“ erreichbar seien. Gedanklich inkludierte ich auch z. B. immer eine Drogenberatungsstelle darunter. Faktisch erlebe ich, dass scheinbar Beratungsstellen zu Themen wie Drogen oder HIV nicht zu diesem 24/7-System gehören. Das ist bestimmt aus vielen Gründen in Ordnung, doch aktuell stellt sich mir die Frage, warum dann jede Institution für den „Notfall“ eine Telefonnummer kommuniziert. Wahrscheinlich komme ich bei der Hitze einfach nicht dahinter…

Pfingstmontag. Drei Menschen spazieren mit einer Flasche Cola zum Zülpicher Platz.

Kurzer Stopp am Geldautomaten, weiter geht es zum Hotel – mal eben einchecken. Soweit so gut. Könnte ein kurzer Auszug eines Artikels für einen Städtetrip nach Köln sein. Zwei Menschen checken ein, bezahlen das Zimmer bar, ein Mensch lehnt lässig am Tresen. Drei Menschen verabschieden sich. Ein Mensch steigt mit der Cola in den Aufzug. Zwei Menschen verlassen das Hotel. Drei Menschen erleben Pfingstmontag.

Pfingstmontag. Nach getaner Arbeit, dem Gottesdienst, greift der örtliche Pfarrer zum Telefon. Klingt nach Provinz, stimmt, Köln. Es ist schön zu sehen, dass Institutionen auch nur Menschen sind und wir alle immer wieder auf unser Netzwerk bauen können. Die Bahnhofsmission wäre ggf. genau der richtige Ansprechpartner in unserer Situation. Ein guter, neutraler Raum.

 

Pfingstmontag. Es gibt einen neuen Artikel beim Blog „divers-leben“. Just heute geht es um die unterschiedliche Arbeitsweise von Coaches und Psychotherapeuten. Einfach mal lesen, klingen lassen. Spannend, dass wir genau heute Dominik kennenlernen durften.

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