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Es bröckelt. Und ich möchte ganz ehrlich herausfinden, warum. Dazu habe ich heute schon tief in Erinnerungen gegraben. Wo alles angefangen hat, ist klar. Bei meinem Lebenstiefpunkt – dem Moment, in dem ich erfahre, dass die deutsche Botschaft in Lomé den Visumsantrag meines damaligen Partners mit der Begründung abgelehnt hat, er habe seinen Kontoauszug (mit lächerlichen 30 Euro drauf) gefälscht. Was sie später wieder zurücknehmen mussten. Also: Eine deutsche Behörde gesteht eine bewusste Lüge ein.

So weit, so gut. Oder liegt alles noch tiefer? Das kann ich beim Schreiben gerade noch nicht sagen. Vielleicht später.

Wie bröckelte es weiter? Vielleicht mit der Willkür bei Stipendiumsauswahl und Examina? Nicht, dass ich schlecht dabei weggekommen wäre, im Gegenteil. Aber was waren die ausschlaggebenden Faktoren? Fleiß und Glück und Herkunft und der Eindruck eines braven, konformen Mädchens. Eigentlich nicht das, was ich mir so gewünscht hätte: Eigenständiges Denken, Kreativität, Originalität, Logik, Gerechtigkeitsempfinden, Persönlichkeit, Effizienz, Produktivität. Gut, einiges davon habe ich auch nicht gezeigt. Und natürlich hat mir letzteres bei ersterem geholfen.

Es bröckelte weiter: Staatliche Entwicklungszusammenarbeit live und in Farbe, als Mittäter. Wir sollen Weiterbildungsseminare für Selbsthilfegruppen und kleine NGOs organisieren und finanzieren. Was können wir abrechnen? Fahrtkosten, externe Moderation, Getränke, Snacks, Raummiete. Leerstehende Räume können wir kostenlos benutzen, moderieren können wir selbst, wie viele Coca Cola Fläschchen brauchen Menschen, denen es an Grundnahrungsmitteln fehlt? Na also. Der „Gewinn“ wird mit den Dorfältesten geteilt. Dafür bekommen wir noch ein paar Hühner ins Auto geladen. Auf dem Rückweg in die Provinzhauptstadt werden uns allerdings zwei davon geklaut, als wir Unmengen Feuerholz in den ächzenden Dienstwagen stapeln lassen, um es gewinnbringend weiterzuverkaufen. Wie soll die einheimische Fachkraft sonst ihre Familie ernähren? Hauptsache, ich bekomme eine Dienstvilla mit Personal gestellt.

Es bröckelte mit der Selbstzerfleischung der ehemaligen Volkspartei links von der Mitte. Mit der einmütigen Beschlussfassung des Bundestages quer durch alle Parteien zur Impfflicht. Mit den aus meiner Perspektive übermäßigen Einschränkungen zwecks Eindämmung der Ausbreitung von Covid-19.

Es bröckelt, je mehr ich über Selbstbetreuung und Freilernen lese und lerne. Wie gerade hochbegabte Kinder in der jetzigen erzwungenen Präsenzschul-Pause aufblühen, sich in ihre Interessengebiete vertiefen, ausgeglichener und glücklicher sind. Wie Eltern davon berichten, wie der morgendliche Wein-und-Schimpf-Kampf mit ihren Kleinkindern genauso ausfällt wie die KiTa. Wie psychosomatische Bauchschmerzen und Aufmerksamkeitsdefizite verschwinden.

Es bröckelt, weil ich bis heute nicht verstehe, warum im Juli 2019 meine Lieblings-Jura-Seite lto.de die Kommentarfunktion bei ihren Artikeln ausgeschaltet hat. Sicherlich habe ich die Begründung gelesen: Um Hass-Rede zu verhindern, was ihnen mit anderen Mitteln aufgrund des personellen und technischen Aufwands nicht möglich sei. Gleichzeitig muss sich Renate Künast durch diverse Gerichtsentscheidungen kämpfen, um aus meiner Sicht eindeutig als Schmähkritik zu wertende Äußerungen ihr gegenüber in sozialen Medien zumindest teilweise als Beleidung anerkannt zu bekommen. Dann wieder bin ich froh, dass das Bundesverfassungsgericht die neuen Strafnormen zur Sterbehilfe gekippt hat. Bei den aktuellen Demonstrationsverboten hält sich unser oberster Verfassungshüter allerdings so sehr zurück, dass es bei mir wieder bröckelt.

Und dann sind da noch diese Einzelfälle. Ich bekam jahrelang Post von einer Frau zugeschickt, die glaubte, ich wäre für sie als Rechtsanwältin tätig, ohne mich je gesehen oder mandatiert zu haben. Sie schickte mir mit DHL-Overnight und als streng geheim angekündigt wirre Zettel mit Rezepten und anderen Notizen. In ihren eMails ging es häufig um die Rettung Edward Snowdens, für die sie sich scheinbar verantwortlich fühlte. Irgendwann schrieb sie mir per Mail, sie sei gegen ihren Willen in eine geschlossene Anstalt eingewiesen worden. Seitdem: Schweigen. Jetzt Beate Bahner, die Fachanwältin für Medizinrecht, die die Corona-Verordnungen für eklatant unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig hält, sogar einen Fall für das Widerstandsrecht nach Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes zu erkennen meint und anscheinend spätestens über die Ostertage eine akute psychische Störung entwickelt hat.

Und dann sind da die virtuellen Freunde, einige, die diejenigen, die die Corona-Beschränkungen für unverhältnismäßig halten, gerne auch mal der versuchten Tötung ihrer Mitmenschen bezichtigen, und andere, die hinter den (auch aus meiner Sicht) übers Ziel schießenden staatlichen Maßnahmen nicht nur Kopflosigkeit, Unfähigkeit, Hybris und Eogzentrismus, sondern böswillige Absicht vermuten. So wars im Übrigen auch schon bei der Debatte um die Impfpflicht. Und dabei sind die meisten meiner virtuellen Freunde nachweislich hochbegabt oder jedenfalls weit überdurchschnittlich intelligent. 

Muss ich mir Sorgen um all diese Menschen machen? Ist es wie beim Kampf Gut gegen Böse, der Unterlegene verliert den Verstand und stürzt sich in den nächsten Brunnenschacht (oder, wie außerhalb der Märchenwelt wahrscheinlicher, von der nächsten Hochhaus-Baustelle)? Laufen alle meine virtuellen hochintelligenten Kontakte Gefahr, selbstzerstörerische Psychosen zu entwickeln? Auch meine verwirrte Schein-Mandantin ist nach eigener Aussage hochbegabt.

Meine Berufung ist es, Menschen, insbesondere hochbegabten und hochsensiblen Menschen, dabei zu helfen, ihre Identität zu finden, zu bewahren und zu lieben. Im realen Einzelfall gelingt mir das auch ganz gut. Aber was ist mit all den anderen da draußen?

Es bröckelt also. Vielleicht ist jetzt Zeit für die tiefen Erinnerungen. Vielleicht begann es schon zu bröckeln, als ich als kleines Kind mitbekam, wie sehr mein Großvater als hochsensibler und ausbildungsmäßig als Kriegsflüchtlingskind deutlich unter seinen intellektuellen Möglichkeiten gebliebener Mensch unter Mobbing bei seiner Arbeit als Kassierer in einer Bank litt.

Vielleicht war es auch schon zerbröckelt, von Anfang an. Denn wie ich inzwischen herausgefunden habe, haben meine Urgroßmutter und meine Großmutter mütterlicherseits auf ihrer Flucht aus Preußen unsägliches Leid erfahren, als die Zwillingssschwester meiner Oma auf der Flucht starb. Und heute widerfährt Menschen in Flüchtlingslagern und auf Fluchtwegen, sei es an der europäischen Ostgrenze, im Jemen, im Mittelmeer, täglich eben dieses Leid. Ein Leid, das ich aufgrund des familiären Traumas so nachdrücklich wie kein anderes nachempfinde.

Ich bin auch traurig, dass der sonst so scharfsinnige und scharfzüngige Thomas Fischer, mein Strafrechts-Held, in den Corona-Beschränkungen keinen schleichenden Untergang der Demokratie und des Rechtsstaats erkennen kann. Zählt nicht auch Verdummung zum Zerfall? Oder ist alles in Ordnung, solange die Verfahren demokratisch und rechtsstaatlich sind?

Aber wie kann es sein, dass der Staat meint, seine Bürger als eklatant unmündig vor sich selbst schützen zu müssen, und das in immer stärkerem Maße, und gleichzeitig trotz staatlicher Dummheit sein Existenzrecht nicht verliert? Ist das nicht ein Wertungswiderspruch? Ist das nicht auch eine Form von Selbstzerfleischung?

Und auch das Argument, es müssten alle beschränkt werden, um die Schutzwürdigen, die sich nicht selbst schützen können oder wollen, zu schützen, muss doch hinterfragt werden dürfen. Und ja, dazu gehören auch solche Fragen wie: Warum kann von heute auf morgen die Wirtschaft lahmgelegt werden, um zu verhindern, dass offenkundig wird, dass unser Gesundheitssystem gewinnmaximierend statt gemeinwohlorientiert betrieben wird, aber nicht, um die übermäßige Ausbeutung der Ressourcen unseres Planeten zu verhindern?

Es bröckelt also. Aber was eigentlich? Ich glaube, es geht um das Vertrauen, dass demokratische und rechtsstaatliche Verfahren dazu in der Lage sind, die herrschenden Eliten so zu kontrollieren, dass ich mich in Deutschland als freier Mensch fühle. Klar, das ist ein sehr subjektiver Maßstab.

Und ich möchte das auch nicht falsch verstanden wissen: Ich fühle mich immer noch wahnsinnig privilegiert und bin dankbar dafür. Aber nein, ich fühle micht seit längerem nicht mehr wirklich frei. Und ja, ich beschäftige mich damit, wie ich mir Freiräume erhalten kann. Und vor allem, wie ich trotz allem in meinem täglichen Tun so viele positive Erfahrungen, dass Freiheit möglich ist, machen kann, dass ich nicht Gefahr laufe, psychisch zu erkranken. Auch wenn es sehr früh scheint: Wehret den Anfängen.

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