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Mein prägender Glaubenssatz ist ja: Ich erkaufe mir Freiheit durch Leistung. Mein ganzes Leben lässt sich entlang dieses Satzes erzählen.

Zu Schulzeiten durch die stillschweigend mit jedem – bis auf eine Ausnahme – Lehrer getroffene Abrede, mich in Ruhe zu lassen, falls ich mich im Unterricht wegträumte, solange ich jederzeit in der Lage war, eine richtige Antwort abzuliefern, wenn sonst niemand mehr etwas beizutragen hatte, oder mich zum Vortrag der Hausaufgaben meldete, wenn alle im Kurs wussten, dass sonst keiner sie gemacht hatte. Es waren verdammt viele Lehrer, mit denen diese Abrede vom ersten Tag oder doch den ersten Wochen an funktionierte. Immerhin habe ich insgesamt sechs verschiedene Schulen besucht, manche nur kurz, aber wie gesagt, es funktionierte ja nach wenigen Wochen. Nur im Sportunterricht hat das natürlich nicht geklappt. Und mit einem wirklich fiesen Informatik-Lehrer nicht. Und bei einer Biologie-Lehrerin hat es ausnahmsweise ein halbes Schuljahr gebraucht.

Wie hat sich dieser Glaubenssatz noch geäußert?

Nach der Schulzeit nahm der Glaubenssatz eine etwas andere Form an, er wurde imperativisch und kämpferisch: Es muss auch beides gehen!

Beides, was war beides? Beides: Sowohl eine brave Musterstudentin zu sein, Bestnoten, studentischer Hilfskraftjob, Stipendium der Studienstiftung, überobligatorische Hausarbeiten, interessante Praktika. Als auch in der Welt herumkommen, Abenteuer erleben, gemeinnützig tätig sein, mich für meine Herzensanliegen Gleichberechtigung und Gerechtigkeit engagieren, mich leidenschaftlich verlieben, schwierige Beziehungen leben.

Beides: Ein Doppelleben, ein Leben für Zwei. Eins brav, eins wild. Sich anpassen, alle Anforderungen erfüllen. Außerhalb des perfekten Ganzen ausbrechen in einem zweiten Leben.

Um jetzt keine falschen Erwartungen aufzubauen: Auch das wilde Leben hielt sich immer an alle Regeln, wäre an und für sich konform gewesen. Nur nicht konform mit meiner von außen wahrgenommenen Identität.

Die Grenzen des Doppellebens

Irgendwann, so um die dreißig rum, ist bei mir aber die Zeit gekommen, wo es nicht mehr gepasst hat mit dem Doppelleben: Die Energie hierfür ging mir irgendwann aus. Ich wollte mehr. Viel, viel mehr. Und mit der Wahlfreiheit des Berufs nach Ende von Studium, Promotion und Referendariat begann das Ausprobieren: Welches Berufsbild passt am besten in mein Doppelleben?

Leider kann man auch das nicht ewig ausprobieren. Sonst ist es nämlich mit der beruflichen Konformität ganz schnell vorbei. Die setzt nämlich Zielstrebigkeit voraus, um in eine konventionelle Karriere zu münden. Zielstrebigkeit und Disziplin hatte ich zwar stets im Überfluss. Aber irgendwann war ich ihrer überdrüssig: Ich wollte ja mehr von mir insgesamt. Ich wollte weiter ausprobieren, ich wollte weitere Facetten ausleben. Ich wollte mich nicht mehr anpassen. Ich hatte nicht vorausgesehen, dass die Aufrechterhaltung des Doppellebens noch einmal so viel Anpassung, Disziplin und Zielstrebigkeit vorausgesetzt hätte, wie schon Schule und Studium verschlungen hatten, um auch im Lebensabschnitt „Karriere machen“ leistungskonform zu bleiben.

Die Verantwortung für ein kleines Wesen

Und dann kam irgendwann noch die Verantwortung für ein zauberhaftes kleines Lebewesen dazu. Das neu war auf dieser Welt, die in ihrer Komplexität emotional nur noch schwer zu verarbeiten ist.

Da zeigte sich der Glaubenssatz noch einmal in anderem Gesicht: Ich will so wenig wie möglich als „anders“ auffallen, um meine Freiheit und die Freiheit dieses kleinen Wesens zu schützen.

Und dazu spiegelbildlich der Satz: Wer als „anders“ auffällt, wird bewertet, verurteilt, unter Druck gesetzt, sozial und wirtschaftlich bestraft, teilweise gezwungen.

Ich wünschte, es würde sich dabei um einen Glaubenssatz handeln. Ich versuche, diesen Satz als Glaubenssatz und nicht als Erfahrungssatz zu behandeln.

Das lief sogar ganz gut. Ich habe mich von Karriere und Ausbildungsberuf verabschiedet, ich mache mein Herzensding, mit wunderbaren Herzensmenschen, wir visualisieren unsere Wünsche und Ziele, wir sprechen darüber, wir werden verstanden, wir werden als glücklich anders wahrgenommen.

Und dann kam Corona.

Den ersten Lockdown habe ich noch verstanden. Der Sommer verlief bis auf die Masken – egal! – schön. Aber jetzt, in diesem zweiten Lockdown, erwischt mich der Glaubenssatz wieder eiskalt.

Diesmal hat er sich in die Form gekleidet: Deine Freiheit ist nichts wert! Dir wird es nicht gelingen, dein Kind zu beschützen! Du musst Angst haben, Aussagen, die du als logisch, gerecht und verhältnismäßig ansiehst, zu tätigen. Du musst dich verstecken und hoffen, dass der Wahnsinn vorüber geht. Und wenn du vor lauter Konformitätsstreben (ich kenne dich ja!) es nicht wagen wirst, dich zu verstecken, wird von deiner Freiheit nicht mehr viel übrig bleiben. 

Und es fühlt sich ganz ähnlich an, wie die prägende Situation in meinem Leben, vor fünfzehn Jahren: Bei einem Praktikum in Togo hatte ich mich verliebt. In einen Seelenpartner. Das wussten wir beide. Viele Menschen um uns herum haben aber gesehen: Ihr seid unterschiedlich. Schwarz und weiß. Reich und arm. Formal gebildet und ungebildet. Muslimisch und christlich konfessionslos. Vielleicht sogar: Gesund und krank. Alt und jung. In jedem Fall: unpassend.

Na gut. Das kann ich aushalten. Habe ich gemerkt.

Was ich nicht aushalten konnte: Das Misstrauen, die Anfeindungen, und, schließlich, die – im Nachhinein als Lüge eingestandene – behördliche Behauptung, mein Partner hätte ein für seinen Visumsantrag relevantes Dokument gefälscht. Ganz abgesehen von dem Scheinehen-Prüfverfahren.

Da waren die Sätze: Deine Freiheit ist nichts wert! Dir wird es nicht gelingen, deine Beziehung und deinen Partner zu beschützen! Du musst Angst haben, Aussagen, die du als logisch, gerecht und verhältnismäßig ansiehst, zu tätigen. Du musst dich verstecken. Und wenn du vor lauter Konformitätsstreben (ich kenne dich ja!) es nicht wagen wirst, dich zu verstecken, wirst du sehr einsam sein.

Ich kann diese Sequenzen bis heute nur als Alptraumerinnerungen abrufen. Ich bin durch die Hölle gegangen.

Ich habe überlebt. Aber wenn ich heute sehe, wie am verkaufsoffenen Sonntag die Menschen mit Dutzenden Primark-Tüten aus der Innenstadt strömen, während ich mit meiner Tochter weder ins Schwimmbad, den Zoo noch den Tierpark gehen darf (was sie hart trifft, weil – anderes Thema – wir sie aus Überzeugung selbst betreuen und so naturgemäß einen anderen sozialen Schwerpunkt haben als KiTa-Kinder, wofür wir auch schon genug bestraft werden), dann werden all diese Gefühle getriggert.

Eine Stimme in mir fleht dann: Ich will es verstehen. Ich will ja gar nichts anderes, als es zu verstehen. Das kleine Kind, das sich nach Liebe und Zuwendung, nach Gesehenwerden sehnt, und um dessentwillen natürlich emotional bereit ist, jede Ungerechtigkeit in Kauf zu nehmen, intellektuell aber nicht aufhören kann, zu fragen: Warum?

Dieser kindliche Anteil in mir erhält keine Antwort. Natürlich sind da meine erwachsenen Anteile, die erklären können: Die Menschen haben Angst, die Politiker sind hilflos, wirtschaftliche Interessen haben starke, schlaue Vertreter, usw. Meine analytischen Fähigkeiten, die natürlich wissen: Zahlen sind beeindruckend. Und beeindruckend zu nutzen, in jeder Hinsicht. Im sozialen Kollektiv herrscht Krieg zwischen Todesangst auf der einen und Lebensbejahung auf der anderen Seite, wobei der Verstand wie immer die Hure ist, die sich mit beiden allzu gerne ins Bett legt. Und wir wissen ja auch allzu gut, wie dieser Konflikt im einzelnen Menschen ausgeht.

Tout comprendre, c’est tout pardonner.

Alles verstehen heißt alles verzeihen. Ein weiterer Satz, der mich mein Leben lang begleitet. Im Sinne dieses Satzes werben viele Menschen meines Umfelds dafür, alle Meinungen unbewertet nebeneinander zuzulassen, für ein friedliches Miteinander und inneren Frieden. Ja, ich bin dabei.

Leider funktioniert das überhaupt nicht, wenn aus Meinungen Entscheidungen und Regeln gemacht und durchgesetzt werden.

An diesem Punkt stehe ich gerade, und versuche, meinen Glaubenssatz liebevoll zu transformieren. Ich bin auf dem Weg.

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