Unser aktueller Buch-Tipp:
Das Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter und andere hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen
Tebartz van Elst (Hrsg.)
Das Buch „Das Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter und andere hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen“ ist ein verständlich geschriebenes Fachbuch. Es fügt Beiträge diverser Wissenschaftler, Therapeuten und Betroffener zu einem übersichtlich gegliederten und ausführlichen Werk zusammen. Es handelt sich um das modernste und umfassendste Fachbuch zum Thema „spät erkannte Aspies*“.
Merkmale des Asperger-Syndroms
In den ersten drei Kapiteln gehen die Autoren ausführlich auf die Merkmale der Autismus-Spektrum-Störung, die früher fachsprachlich und heute umgangssprachlich „Asperger-Syndrom“ genannt wird, ein: die Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und Kommunikation durch die Schwierigkeit, die nicht sowohl verbal als auch sachbezogen geäußerten sozialen Signale anderer Menschen zu verstehen; das ausgeprägte Bedürfnis nach Routinen; eine hohe Detailfokussierung; sowie eine hohe Empfindsamkeit im Hinblick auf sensorische Reize.
Was das Buch für uns so spannend macht
Was haben wir als Coaches für besonders facettenreiche Menschen mit dem Thema Asperger-Autismus zu tun? Tatsächlich ist das Thema für uns sehr relevant. Die besonderen Facetten unserer Klienten umfassen ja häufig eine hohe intellektuelle Begabung (Hochintelligenz, gemeinhin „Hochbegabung“ genannt und definiert ab einem IQ > 130) sowie eine hohe sensorische Empfänglichkeit (Hochsensibilität, geprägt durch Elaine Arons Begriff „highly sensitive person“). In diesem Zusammenhang gibt es zwei bemerkenswerte Korrelationen: Einerseits weisen hochbegabte Menschen häufig „autistische Züge“ auf, indem sie z.B. sozial unangemessene Bemerkungen machen oder ein hohes Bedürfnis nach klaren Strukturen und Routinen aufweisen. Andererseits zeigt die neuere Forschung, dass Aspies häufig hochsensibel sind bzw. dass, auch wenn dies noch nicht umfassend erforscht ist, Hochsensibilität sogar ein Merkmal des hochfunktionalen Autismus sein könnte.
Fließender Übergang zwischen Pathologie und Gesundheit
Die Besonderheit spät erkannter „Aspies“ liegt darin, dass sie ihre sozialen Schwierigkeiten durch Kindheit, Schulzeit und Ausbildung/Studium hinweg durch eine hohe Intelligenz kompensieren und ihr Lebens bislang so führen konnten, dass weder Eltern, Lehrer noch sie selbst einen Therapeuten aufgesucht haben. Insbesondere konnten die Betroffenen lernen, soziale Signale intellektuell zu entschlüsseln und sich so sozialadäquat zu verhalten.
Die Feststellung, dass immer mehr Menschen sich ihrer Autismus-Spektrum-Störung im mittleren Erwachsenenalter bewusst werden, deutet auf eine hohe Dunkelziffer hin. Und führt zu der Feststellung der Autoren, dass der Übergang zwischen einem pathologischen Zustand und einer besonders starken Ausprägung von Persönlichkeitsmerkmalen fließend ist. Das heißt, dass es von situativen, biographischen Faktoren abhängig ist, ob und wann ein solcher Leidensdruck vorliegt, dass eine Diagnose gestellt wird. (Das erinnert doch sehr an Schroedingers Katze: Die Katze ist tot und lebendig zugleich. Ebenso ist ein hochfunktionaler Autist zugleich gesund und krank.)
Korrelation zwischen hochfunktionalem Autismus, Hochbegabung und Hochsensibilität
Das bedeutet aber auch, dass hochfunktionale Asperger-Autisten in einem für sie passenden sozialen Umfeld ein glückliches und zufriedenes Leben führen können. Für unsere Coaching-Arbeit bedeutet das darüber hinaus, dass durch unsere besondere Spezialisierung sehr viele unserer Klienten sowohl hoch intelligent als auch sehr empfänglich für sensorische Reize sind und darüber hinaus autistische Züge aufweisen.
Diese Menschen kommen zu uns mit dem Wunsch, Veränderungen in ihrem Leben positiv zu gestalten, aber ohne einen therapiebedürftigen Leidensdruck im Sinne mangelnder Selbststeuerungsfähigkeit. Eine Pathologisierung dieser Personen z.B. durch Überweisung an einen Diagnostiker/Therapeuten wäre deshalb aus meiner Sicht untunlich. Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwieweit die Erkenntnis der eigenen autistischen Züge diesen Menschen Erleichterung verschaffen kann, sowohl im Hinblick darauf, sich ein (noch) passenderes soziales Umfeld zu schaffen als auch weniger Energie in die erlernten Kompensationsstrategien zu geben. Das ist wiederum mit der Frage verbunden, ob und wenn ja in welchen Worten ein Coach diesbezügliches Feedback geben sollte.
Asperger und Empathie
Andere unserer Klienten sind sowohl hochintelligent als auch hochsensibel und darüber hinaus hochempathisch. Häufig stellt die hohe Empathiefähigkeit dabei eine große Herausforderung dar, die sich regelmäßig im Coaching-Ziel niederschlägt. Während dieses Phänomen bei Menschen, die, ich nenne es mal „hochintuitiv hochempathisch“ sind, sowohl für den Betroffenen selbst als auch für den Coach ziemlich offenkundig ist, wird Aspies gerne nachgesagt, sie seien nicht empathiefähig.
Neuere Forschung deutet dagegen darauf hin, dass Menschen mit Asperger-Syndrom ein überaus reiches inneres Gefühlsleben einschließlich einer hohen Fähigkeit zum Mitgefühl aufweisen. Die Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen, wird allerdings anders als bei den „intuitiven Empathen“ nicht sensorisch, sondern intellektuell vermittelt. Das bedeutet auch, dass hochfunktionale und damit hochintelligente Asperger-Autisten z.B. genau so sehr unter Ungerechtigkeit leiden, wie die meisten hochbegabten und hochsensiblen „Neurotypischen“ auch. Nur fehlt es ihnen häufig an einem Kanal, dies sozialangemessen auszudrücken.
Meine Empfehlung
Ich glaube, dass sich alle hochbegabten und hochsensiblen Menschen mit dem Thema Asperger auseinandersetzen sollten. Einfach schon deshalb, weil es wahrscheinlich ist, dass, je mehr die eigene Hochbegabung und Hochsensibilität integriert werden und sie dies ausstrahlen, sich auch unweigerlich Menschen mit autistischen Zügen in ihrem Umfeld finden werden. Dazu muss man nicht unbedingt ein Fachbuch mit über 400 Seiten lesen, aber besser, als sich in den Untiefen des Internets zu verlieren, ist es allemal, auch wenn man vielleicht manche Artikel überblättert. Äußerst nützlich ist die Lektüre meines Erachtens für alle Coaches und Therapeuten, die sich auf Hochbegabung und/oder Hochsensibilität spezialisiert haben, ohne sich bislang mit dem Thema Asperger auseinandergesetzt zu haben.
* Betroffene bezeichnen sich selbst häufig als „Aspies“ und Nicht-Betroffene als „neurotypisch“.
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