Ostern 2020 – Sonntag. 20°C, Sonne, blauer Himmel. Zeit, das Motorrad aus dem Winterquartier zu holen.
Wie praktisch, dass die Garage in unmittelbarer Nähe zum Elternhaus steht. Somit lässt sich das alljährliche Familien- Mittagessen mit der ersten Ausfahrt des Jahres verbinden. Quasi mit vollem Spargelbauch im Sonnenlicht gen Süden fahren. Welch eine Vorstellung. Aber, eigentlich ist doch jetzt alles anders als sonst. Gibt es dieses Jahr wohl Spargel auf dem Tisch, oder ist er nicht bezahlbar und somit aus dem Menü gestrichen, da die ganzen Erntehelfer nicht einreisen dürfen? Dürfen wir alle an einem Tisch sitzen? Wie viel Abstand erlaubt ein runder Tisch mit 1,50 m Durchmesser? Abwarten.
Schnell noch zur Friedhofsgärtnerei, ein Blümchen kaufen – ich will doch nicht mit leeren Händen fahren. Und nachdem Samstags sowohl im Supermarkt als auch im Baumarkt der Ausnahmezustand herrschte – Einlass nur mit Einkaufswagen und bitte immer erst einzeln eintreten, wenn einer das Geschäft verlässt; Türsteher, die vor meinem inneren Auge sonst eher vor schummrigen Diskotheken stehen, mustern jetzt ältere Menschen wie Teenies – wird es ja wohl in der Friedhofsgärtnerei gemächlich zugehen. Zwei Minuten nachdem der Laden geöffnet hat, bildet sich auch hier eine Schlange. Immerhin ohne Einkaufswagen und als Dritte stehe ich in der Schlange, fröhlich pfeifend mit einer Osterglocke in der Hand.
Die Verkäuferin lächelt hinter ihrem Plexiglasschild und verkauft mir die Pflanze noch preiswerter, als sie gekennzeichnet war. Auf meine Bitte, die Pflanze „reisetauglich“ zu verpacken, erhalte ich mein Schnäppchen in schönes Papier gewickelt und verlasse schmunzelnd das Geschäft – ich gehe an vielen finster dreinschauenden Menschen vorbei.
Die Anreise zum Motorrad (ok, auch zu meinen Eltern 😉) plane ich mit dem ÖPNV – fährt der eigentlich noch, darf ich ohne Mundschutz reisen und wie ordne ich die Aussage der Bahn ein, „Schaffner fahren nur mit, kontrollieren aber nicht“. Mit dem Blümchen in der Hand laufe ich durch die stille Stadt: keine Touristen, keine Hipster, keine Familien mit Kindern. Insgesamt begegne ich auf meinem 20-minütigen Fußweg zum Kölner Hauptbahnhof lediglich vier Menschen. Die Domplatte wie leergefegt, der Kölner Hauptbahnhof verlassener als nachts an einem Wochentag. Die Geschäfte geschlossen, die Durchsage „aufgrund von Corona kommt es in NRW zu Zugausfällen – achten Sie auf den Sonderfahrplan“ läuft in einer Dauerschleife.
Langsam fühle ich innere Unruhe in mir.
Ist dieser Virus wirklich so schlimm, als dass ich als mündiger Bürger nicht eigenverantwortlich respektvoll mit Menschen interagieren kann. Freiwillig und mit Verstand an die Sache gehen – wie unsere europäischen Nachbarn in Schweden. Muss ich als Deutscher alles vorgegeben bekommen? Mit wie viel Abstand von der Dönerbude ich meinen Döner essen darf und ab wann ich mit einem Bußgeld rechnen muss, … ok, ich drifte ab. All solche Gedanken kreisen in meinem Kopf auf dem Weg zu Bahnsteig Nr. 1.
Auf dem Bahnsteig – gleiches Bild: mehr Tauben als Menschen (und selbst die Tauben werden immer weniger). Der Zug fährt ein – der doppelstöckige Rhein-Ruhr-Express. 3 Menschen steigen aus, 7 Menschen steigen mit mir ein. Wo die auf die Schnelle hergekommen sind? Vermutlich standen sie im Windschatten der Litfasssäulen, Aufzüge und Informationstafeln. Im Zug herrscht freie Sitzplatzwahl. Der Zugbegleiter wischt höchstpersönlich mit Desinfektionsmittel die Armlehnen ab, bevor ich mich setze. So „luxoriös“: Stille, Beinfreiheit – oder andersherum: kein Husten, kein Schniefen, keine unangenehme Gerüche, keinen unfreiwilligen Körperkontakt – bin ich die Strecke Köln-Düsseldorf noch nie mit ÖPNV gefahren.
Am Bahnhof werde ich mit dem Auto abgeholt und gefragt, ob ich hinten sitzen mag – rein prophylaktisch. Normale Konversation, also spreche ich mal demonstrativ in Richtung meines Fensters, auf dass keine Tröpfchen durchs Auto fliegen.
Endlich angekommen, bewegen wir uns alle mit gefühlten zwei Metern Sicherheitsabstand um einander herum. Bis – ja, bis zu dem Zeitpunkt, wo das Essen auf dem Tisch steht. Spargel – wie vermutet. Extra direkt an der Bude beim Erzeuger geholt, um Menschenmassen zu vermeiden. Er schmeckt. Was er gekostet hat, ist kein Gesprächsthema. Dafür aber mal wieder Covid-19. Wie wir alle damit umgehen, wie wir als Selbstständige damit klar kommen. Was unsere Kunden jetzt machen. Wie gut es uns Deutschen im Verhältnis zu Menschen in anderen Ländern geht. Wann die Situation endlich wieder vorbei ist. Ob aus dieser Pandemie auf einmal neue Gesetze, Beschränkungen oder Regeln entstehen: Impfpflicht für jeden gegen Alles, GPS-Tracking von Erkrankten/Genesenen, um „den Virus zu verfolgen“ … . Der Spargel ist vergessen, der Nachtisch schmeckt fad. Ich erwische mich bei Gedanken von „hoffentlich wird alles so wie vor Corona“ über „das Grundgesetz darf nicht geändert werden“ bis zu „wie schnell kann eine Gesellschaft zerbrechen“.
Da fällt mir spontan eine Meldung der Polizei NRW ein:
Die Polizei wird verstärkt am Osterwochenende Motorradfahrer kontrollieren, ob auch sie sich an die „Corona Kontaktbeschränkungen“ halten. Hm, bisher hatte ich zumindest in Deutschland nie mehr als zwei Menschen auf einem Motorrad gesehen. Der Gedanke an Kontrolle lässt auch mich nervös werden: eine Bekannte hier in NRW erzählte, dass sie „seit Corona“ schon viermal von der Polizei angehalten und gefragt wurde, wohin sie gehe. Ob es daran lag, dass sie ein Kopftuch trägt? Wäre ich auch gefragt worden? Wann habe ich die Meldung verpasst, dass es Ausgangssperren gibt?
Ich bin froh, dass ich alle angebotenen Essenspakete meiner Mutter nicht auf dem Motorrad mitnehmen kann. Nicht, dass es mir nicht schmecken würde, sondern eher, um bei einer möglichen Kontrolle nicht noch erläutern zu müssen, dass ich nicht zu einem geheimen Picknick-Treffen der Motorradfahrer unterwegs bin. Mit diesem Gedanken steige ich lächelnd auf mein Motorrad und fahre los.
Während ich durch schöne Wälder und blühende Rapsfelder fahre, entscheide ich mich spontan für einen kurzen Stopp im Biergarten. Ja, Biergarten: Freunde haben ihren Garten für Freunde geöffnet. Auf mehreren Quadratmetern stehen in Abständen von drei Metern kleine Bistrotische und -stühle, Sonnenschirme und eine Kaffeemaschine, die jeder einzeln bedienen kann. Konversation ist mit allen möglich – über die Tische hinweg. Idyllisch gelegen, freistehend, keine Nachbarn, die unsere Unterhaltungen stören. Ich hole mir aus dem Keller ein alkoholfreies Bier, proste den anderen Menschen zu und genieße etwas Normalität – harmloser Small Talk mit entspannten Menschen.
Es tut mir gut … echter, physischer zwischenmenschlicher Kontakt. Gestik, Mimik, Intonation. Blickkontakt.
Das Bier ist leer und ich ziehe weiter. Ich entscheide mich für den schnellsten Weg nach Hause – über die Autobahn. Anders als sonst, habe ich auf einmal drei bis fünf Spuren nur für mich alleine, dann und wann mal überholt mich ein schneller Sportwagen. Ansonsten – Leere. Als ob Deutschland im Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft steht. Herrlich. So hat Corona doch was Gutes 😉.
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