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Ein Coming Out, braucht man das heute überhaupt noch? Ist es nicht ganz selbstverständlich für uns geworden, dass der eine hetero, der andere homosexuell liebt? In Zeiten, in denen das Bundesverfassungsgericht anerkannt hat, dass es diskriminierend ist, sich für entweder das männliche oder weibliche Geschlecht entscheiden zu müssen und deshalb jede Stellenanzeige mit „m/w/d“ – oder neuerdings auch „x“ ausgeschrieben wird? In Zeiten, in denen die Fraktionen im Bundestag den Fraktionszwang für die Abgeordneten bei der Abstimmung über die „Ehe für alle“ als grundlegende Gewissensentscheidung aufheben und diese mit großer Mehrheit beschlossen wird?

Ich sage: Ja, auch heute noch „braucht“ man ein Coming Out. Und das hat damit zu tun, dass erstmal zu erklären ist, dass ein Coming Out (genau wie die Tatsache, dass und wen und wie mensch liebt) nichts ist, was mensch sich wirklich aussuchen könnte oder würde. Vielmehr ist es ja genau anders herum: Du wirst  g e f r a g t, „was“ du bist.

 Nehmen wir mal den Ablauf eines Vorstellungsgesprächs, der etwa so aussehen könnte, dass zunächst das förmliche Gespräch mit Personaler und zukünftigem Chef geführt wird und dort die typischen Themen wie Qualifikation, zukünftige Aufgaben, Team, Passung, Anforderungen, Stärken und Schwächen des Bewerbers, Gehalts- und Vertragsfragen abgearbeitet werden. Danach gibt es noch den informellen Teil, bei dem der Bewerber mit zwei potentiellen Kollegen einen Kaffee trinken geht. Hier wird die Frage gestellt: Und, was macht deine Frau? Auf die der Bewerber zwar ohne zu lügen antworten kann: Ich habe keine Frau. Dabei würde er verschweigen: Ich habe einen Mann. Und natürlich nicht erzählen können, was der macht.

Die Art und Weise, wie er die Frage beantwortet, ist ein kleines Coming Out – immerhin gegenüber den beiden Menschen, mit denen er, falls es mit dem Job für alle Seiten passt, potentiell (bei Vollzeit) die nächsten Jahre die meiste (wache) Zeit seines Lebens verbringen wird.

Er könnte sich auch erstmal am Kaffee verschlucken und spontan sagen, „ich bin verheiratet, aber mit einem Mann. Udo arbeitet bei einer großen Versicherungsgesellschaft …“. Und würde sich dann wahrscheinlich hinterher ein bisschen schämen und/oder (je nach Persönlichkeit) ärgern. Denn wirklich souverän klingt nur die direkte Replik: Mein Mann ist Versicherungsmathematiker bei einer großen Versicherungsgesellschaft.

Was mensch also heutzutage und noch auf lange Sicht brauchen wird, ist eine in jeder Situation souveräne Haltung gegenüber Fragen, die sich nur durch Offenbarung der eigenen sexuellen Identität beantworten lassen (ohne zu lügen). Diese Haltung bezeichne ich als „Coming Out“.

Bringt uns zu der weiteren Frage: Wie viel davon braucht’s denn? Braucht’s ein Coming Out in der Schulzeit, wenn ich bemerke, dass ich Mädchen irgendwie attraktiver finde als Jungs, aber noch nichts „passiert“? Braucht’s ein Coming Out, wenn ich das erste Mal eine Schwulenbar besuche? Wenn ich die erste Freundin habe? Wenn ich die zweite Freundin habe, denn dann wird es „stetig“? Oder wenn ich das erste Mal meinen Eltern eine Freundin vorstelle? Und was, wenn ich dann nach zwanzig Jahren mit (ernsteren und weniger ernsten) Beziehungen zu Frauen plötzlich eine mit einem Mann habe? Oder wenn ich nach zehn Jahren in einer guten, liebevollen, stabilen Beziehung mich in einen weiteren Menschen verliebe und mit diesem auch eine Beziehung eingehe? Was, wenn sich vier Menschen entschieden haben, gemeinsam ein Kind zu haben, zwei als biologische Eltern, zwei als die sozialen Hauptelternteile, in deren Beziehung das Kind aufwächst, das weitere biologische Elternteil aber als solches kennt und dieses und sein Partner ebenfalls Teil des Familienlebens sind?

Sind das alles Anlässe für ein neues Coming Out? In dem Sinne, als dass du jedes Mal eine neue innere Souveränität zu der für die Außenwelt „veränderten Situation“ finden musst – ganz klar Ja.

Und diese Souveränität musst du finden, ob du willst oder nicht – sonst wirst du dich fürchten vor Situationen, in denen du gesehen wirst, wie du bist, wirst dich nachträglich dafür schämen, wirst dich verstecken, um sie zu vermeiden. Kurzum, du wirst nicht du selbst sein und wirst Teile deiner Persönlichkeit beschränken, wirst mit deiner Persönlichkeit „nicht herauskommen“.

Und dann noch mal die Frage: Braucht es ein Coming Out? aus eher – für mich: philosophischer – Perspektive.

Und ich denke: Nein. Ich würde mir wünschen, dass es dessen nicht bedarf. Ich würde mir wünschen, dass der einmalige Satz ausreichen würde: Ich liebe Menschen.

Mit allem, was das impliziert: Ich liebe große Menschen, kleine Menschen, weiße Menschen, schwarze Menschen, Menschen mit und ohne Handicap, Menschen, die sich als Frauen identifizieren und solche, die Männer sein wollen, ich liebe mehrere Menschen gleichzeitig und jeden von ihnen unendlich und unteilbar.

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